Auf der Seite des Robert-Koch- Instituts ist in der neuesten Mitteilung vom 24.07.2020 zu lesen, dass die Corona-Infektions-Fallzahlen wieder ungewöhnlich steigen: „Diese Entwicklung ist sehr beunruhigend und wird vom RKI weiter sehr genau beobachtet“ Hoffen wir mal nicht, dass die parallel auf tagesschau.de zu lesenden Prophezeiungen des sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer stimmen, dass eine neue Corona-Welle bereits „schon da“ sei. Ich will mir gerade nicht ausmalen, was los wäre, wenn es nach den Sommerferien erneut zu einem Lockdown käme und die Kita- und Schulschließungen in die zweite Runde gehen würden. Meine ersten Bilder im Kopf sind wutentbrannte Mütter und Väter, die bewaffnet mit Transparenten und Megaphonen auf die Straßen gehen und stinkende Kinderwindeln auf Behörden werfen…
Ob sich die Politik von Elternprotesten und vollen Windeln beeindrucken lässt, ist, wie man in den vergangenen Monaten gesehen hat, eher fraglich. Was die Damen und Herren Politiker*innen aber sehr wohl interessieren dürfte, sind wegweisende Gerichtsentscheidungen, die sich bereits mit der Rechtmäßigkeit von Kita-und Schulschließungen während der Corona-Krise beschäftigt haben. Sie sind DER Indikator für die Antwort auf die Frage: Waren die Kita- und Schulschließungen bzw. der Ausschluss einzelner Kinder von Bildungseinrichtungen in der Vergangenheit rechtmäßig und unter welchen Bedingungen dürften sich diese im Falle eines erneuten Lockdowns wiederholen?
Was es dafür und gerade im Hinblick auf einen möglichen zweiten Lockdown braucht, sind – logisch – bereits bestehenden Urteile zur Thematik. Diese sind leider Mangelware, da bislang nur wenig Corona-Rechtsprechung zu den Kita- und Schulschließungen existiert. Besonders interessant ist dabei ein bisher noch nicht rechtskräftiger Beschluss des Bayrischen Verwaltungsgerichts Regensburg. Im Eilverfahren (das Urteil steht noch aus) wurde entschieden, dass eine Schließung des regulären Betreuungsangebotes in einer Kita und ein entsprechendes Betreuungsverbot gegenüber einem vierjährigen Jungen aufgrund der Corona-Krise Ende Juni 2020 NICHT mehr verhältnismäßig war (Beschluss vom 17.6.2020, Az. RO 14 S 20.1002, nicht rechtskräftig).
Auch wenn der Beschluss nur für ein einziges Kind gilt, ist er sehr wertvoll (mein Respekt & Dank an die klagenden Eltern, bitte meldet euch bei mir, ich würde gerne mal mit euch telefonieren!) und wegweisend für den Fall eines weiteren Lockdowns – denn daraus kann abgeleitet werden, unter welchen Umständen eine erneute Schließung der Kita, bzw. ein Ausschluss von Kindern rechtmäßig bzw. rechtswidrig wäre. Gleichzeitig ermöglich der Beschluss und das noch ausstehende Hauptsacheverfahren eine juristische Bewertung und Aufarbeitung der erheblichen Eingriffe in Eltern und Kinderrechte durch die monatelange Schließung von Bildungseinrichtungen.
Die wichtigsten Fakten zum Fall
Kläger sind die Eltern eines vierjährigen Jungen aus Bayern. Sie wenden sich in dem Verfahren gegen die vom Staatsministerium für Gesundheit und Pflege verabschiedeten Allgemeinverfügung vom 29.5.2020 und die darin beschriebenen Maßnahmen im Bereich der Kitas zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Aufgrund dieser Maßnahmen durfte der Sohn die Kita nicht besuchen, weil er zu jung war: Nummer 3.5 der Allgemeinverfügung vom 29.5.2020 legt fest, dass nur Kinder, die zum Schuljahr 2021/2022 gemäß Art. 37 Abs. 1 Satz 1 BayEUG schulpflichtig werden, seit dem 15.6.2020 wieder in den Kindergarten gehen dürfen.
Die Eltern forderten, dass ihr Sohn ab dem 15.6.2020 wieder in die Kita gehen darf. Sie sind der Auffassung, dass der Ausschluss aus der Kita aufgrund der aktuellen Lage nicht mehr angemessen ist. Sie sind der Auffassung, dass die getroffenen Regelungen willkürlich sind und die Rechte ihres Sohnes verletzen: 80 % der Kinder dürfen wieder in den Kindergarten gehen, auch die Freunde des Sohnes, nur er nicht. Er leide sehr darunter. Es sei nicht nachvollziehbar, dass die Infektionsgefahr von Kindern, welche die Voraussetzungen der Allgemeinverfügung nicht erfüllten, besonders hoch sein sollte. Die Kinder seien nur etwas älter als ihr Sohn und nicht mehr und nicht weniger ansteckend.
„Maßnahmen nicht mehr gerechtfertigt“ – so urteilt das Gericht:
Das Gericht gab der Auffassung der Eltern statt. In ihrer Begründung erklären die Richter, es müsse immer „abgewogen werden zwischen den Grundrechtseinschränkungen durch die Maßnahmen und dem Schutz der Bevölkerung.“
Neue Studien hätten ergeben, dass Kinder keine Virenschleudern sind, wie häufig befürchtet. Dazu zitiert das Verwaltungsgericht eine aktuelle Screening-Studie der vier Universitätskliniken Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm (bei Interesse könnt ihr die Details zur Studie hier nachlesen).
Auf der anderen Seite handle es sich aufgrund der zeitlichen Dauer der Corona-Einschränkungen „um einen intensiven Eingriff in die Interessen sowohl der Eltern als auch des Kindes“. Das Gericht führt weiter aus:
„Die dauernde Isolation eines Kindes von seinen gleichaltrigen Freunden kann zu entwicklungspsychologischen Schäden führen. Durch das gleichzeitige Arbeiten und Erziehen werden Familien erheblich belastet und es entsteht ein hohes Belastungs-und Konfliktpotenzial. Auf der anderen Seite ist die Zahl der Neuinfektionen im Vergleich zum Zeitpunkt der Schließung der Kindertageseinrichtungen massiv zurückgegangen.“
Noch größere Zweifel bestehen darüber hinaus für das Gericht, ob sachliche Gründe für eine Ungleichbehandlung von Kindern bestehen. Der Junge darf allein aufgrund seines Alters den Kindergarten nicht besuchen. Das verstößt laut Begründung der Richter gegen den Gleichheitsgrundsatz:
„Die Begründung für die in Ziffer 3.5 gemachte Ausnahme, mit zunehmendem Alter träten vermehrt themenbezogene Bildung-und Erziehungsziele sowie die Stärkung ausgewählter Kompetenzen mit Blick auf den Übergang in die Schule in den Vordergrund, stellt aus infektionsschutzrechtlichen Gründen keinen sachlichen Grund für eine Ungleichbehandlung des Kindes der Antragsteller mit den Kindern, die zum Schuljahr 2021/2022 nach Art. 37 Abs. 1 Satz 1 BayEUG schulpflichtig werden, dar.“
Und was bedeutet der Beschluss für die Vergangenheit und für einen möglichen neuen Lockdown?
Fest steht, dass im Fall eines neuen Lockdowns genau abgewogen werden muss, ob die mit den Kitaschließungen verbunden Grundrechtseinschränkungen zum Schutz der Bevölkerung gerechtfertigt sind. Bei der Abwägung sind das aktuelle Infektionsgeschehen, aber auch die Ergebnisse von Studien zur Ansteckung und Weiterverbreitung des Virus durch Kinder, bzw. in Kindergärten einzubeziehen.
Fest steht, dass eine mehrmonatige Kitaschließung bei sinkenden Neuinfektionen seit den Schließungen ein Eingriff in die Grundrechte der Eltern und Kinder darstellt.
Fest steht, dass die unterschiedlichen altersmäßige Behandlung der Kinder beim Zugang zur Kita gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt.
Und abschließend noch ein Blick zurück:
Es zeichnet sich die Tendenz ab, dass der vergangene Lockdown und der damit verbundene Ausschluss der Kinder von Bildungseinrichtungen nach Auffassung der Rechtsprechung massiv die Grundrechte von Eltern und Kindern verletzt hat – zumindest seitdem die Neuinfektionen gesunken sind.
Was kann ich im Falle eines erneuten Lockdowns tun?
Falls dein Kind von einer erneuten Kitaschließung betroffen wird, oder immer noch coronabedingt keinen Zugang zur Kita hat, kannst du dich zwar gegenüber den zuständigen Behörden auf den Beschluss berufen (bitte immer das Aktenzeichen zitieren, s.o.), aber das wird voraussichtlich wenig helfen, da dieser noch nicht rechtskräftig ist und leider auch nur für ein Kind und ein Bundesland gilt. Der Junge, dessen Eltern erfolgreich geklagt haben, darf die Kita wieder besuchen. Alle anderen Eltern jedoch müssen einzeln für sich bzw. ihr Kind klagen, um (zukünftig) ihr Recht auf einen Betreuungsplatz durchzusetzen. Ein echter Skandal, wie ich finde. Sammelklagen, die eine weitaus breitere Wirkung entfalten könnten, gibt es ja leider nicht bei uns (dazu gleich mehr).
Wie geht das eigentlich – Rechtmittel einlegen? Falls es soweit sein sollte, kannst du zur Rechtsantragsstelle deines zuständigen Gerichts gehen. Dort sitzen Sachbearbeiter*innen, die dir helfen, die Klage zu formulieren. Oder hole dir Hilfe vom Anwalt*in. Gemeinsam könnt ihr die Klage formulieren und beim Verwaltungsgericht deiner Stadt / Gemeinde einreichen.
Wir Eltern brauchen dringend das Recht auf Sammelklagen!
Das Urteil zeigt einmal mehr, dass wir Eltern dringend das Recht zur Sammelklage brauchen. Bisher gibt es Sammelklagen nur in eingeschränkt für Verbände in bestimmten Bereichen (z.B. Naturschutz). Daher fordere ich die Politik auf, möglichst schnell die gesetzlichen Grundlagen für gemeinsame Klagen von Eltern zu schaffen – notfalls über Eltern bzw. Familienverbände. Auch wenn diese Thematik bislang kaum öffentlich diskutiert wurde, hoffe ich wirklich sehr, dass Elterninitiven und Verbände sowie die Politik diesen Missstand erkennen und entsprechende Gesetzesänderungen fordern und umsetzen.
Es muss dringend einen Rechtsbehelf geben, der im Hinblick auf den Zugang zu Betreuungs- und Bildungseinrichtungen ermöglicht, dass Eltern und Kinder ihre Rechte zukünftig GEMEINSAM durchsetzen können.
Was meint ihr dazu? Würdet ihr bei einem erneuten Lockdown Klage einreichen? Oder habt ihr noch Ideen, wie wir Eltern uns besser vernetzen können?
Meldet euch gerne bei mir oder schreibt mir einen Kommentar unter diesen Post!
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