Vielen Dank für die vielen positiven Reaktionen zum Urteil des Arbeitsgerichts Essen! Ihr hattet natürlich unzählige Fragen dazu, diese wollen wir euch heute beantworten. Bitte beachtet, dass es sich nur um allgemeinen Ausführungen handelt, die unsere vorläufige Einschätzung darstellen und es sich um keine verbindliche Rechtsauskunft handelt. Dafür müssten wir jeden Einzelfall gesondert prüfen. Jetzt aber: viel Spaß beim Lesen!
#1 Ist das Urteil rechtskräftig? Wie lange kann es noch dauern, bis es rechtskräftig ist? Wann wird die Berufung ca. verhandelt?
Das Urteil ist leider noch nicht rechtskräftig, da die Beklagtenseite – also der Arbeitgeber- Berufung eingelegt hat. Die Sache ist nun beim Landesarbeitsgericht Düsseldorf anhängig. Wann genau weiter verhandelt wird, ist schwer zu sagen: Die Terminierung der Gerichte hängt immer von deren aktuellem Arbeitsaufkommen ab, wir schätzen, dass das Verfahren ca. 6-12 Monate dauert.
Auch ein Urteil des Landgerichts ist aber nicht zwingend die letzte Station: Das Ganze kann – sofern die Revision zugelassen wird- bis zum Bundesarbeitsgericht gehen, wenn eine oder beide Parteien das Urteil des Landgerichts nicht akzeptieren wollen . In diesem Fall wäre es noch ein weiter Weg bis zur Rechtskraft.
#2 Muss die IAP nicht jetzt schon erst mal an deine Mandantin gezahlt werden?
Ja. Alle End- und Teilurteile der Arbeits- und Landesarbeitsgerichte sind kraft Gesetzes vorläufig vollstreckbar, auch wenn sie noch nicht rechtskräftig sind. Würde das Berufungsgericht das Urteil dann allerdings abändern und den Anspruch verneinen, müsste meine Mandantin die erhaltene IAP zurückzahlen.
#3 Wenn das Urteil bestätigt wurde, für wen gilt es dann?
Das Urteil gilt erst einmal nur für und gegen die Parteien, es entfaltet also nur Wirkung zwischen meiner Mandantin und beklagten Arbeitgeber. Allerdings ist damit zu rechnen, dass bei einer Bestätigung durch das Landesarbeitsgericht, spätestens aber bei einer Bestätigung durch das BAG, eine Orientierung der Arbeitgeber bzw. der Tarifparteien an der Rechtsprechung erfolgt. Es würde keinen Sinn machen, an einem vom BAG für unwirksam befundenen Tarifvertrag festzuhalten. Welche Regelung dann genau getroffen wird, ist allerdings schwer vorherzusagen.
#4 Lässt sich das Urteil auch auf den TV-L bzw. andere Tarifverträge übertragen?
Das Arbeitsgericht Essen hat die Feststellung einer diskriminierenden Unterscheidung hinsichtlich der IAP darauf gestützt, dass eine „fehlerhafte Gruppenbildung“ vorgenommen wurde. Laut TVöD sollen Beschäftigte im Krankengeldbezug die IAP erhalten, Beschäftigte in Elternzeit nicht. Das wurde vom Gericht als unzulässige Ungleichbehandlung von vergleichbaren Beschäftigten („arbeiten gerade nicht, sind aber weiterhin Mitarbeiter:innen und kommen früher oder später wieder“) gewertet. Diese Argumentation greift also immer dann, wenn eine anderen Verträgen eine entsprechende unzulässige Differenzierung vorgenommen wurde. Dies ist etwa auch im TV-L der Fall, dort wird die gleiche Gruppenbildung vorgenommen. Sofern andere Tarifverträge diese Unterscheidung ebenfalls treffen, ist die Rechtsprechung auch auf sie übertragbar.
#5 Ich bin Beamtin, was muss ich beachten?
Das AGG gilt auch für Beamte und Beamtinnen. Sie müssen allerdings das im Verhältnis zu ihrem Dienstherrn relevante besondere Beamtenrecht beachten. Das Verfahren ist daher etwas anders: Du musst erst ein Widerspruchsverfahren durchlaufen und dann vor dem Verwaltungsgericht, nicht vor dem Arbeitsgericht klagen
#6 Das Urteil betrifft auch mich, was sollte ich nun tun? Wie mache ich den Anspruch geltend? Muss ich sofort klagen?
In jedem Fall ist es sinnvoll, deinen Anspruch unter Verweis auf das Urteil beim Arbeitgeber (schriftlich) geltend zu machen. Sollte der Arbeitgeber die Zahlung ablehnen, musst du abwägen: Willst du selbst klagen und falls das Urteil in den nächsten Instanzen negativ ausfällt, ein Kostenrisiko eingehen? Oder willst du lieber ohne Kostenrisiko abwarten und darauf hoffen, dass die weiteren Instanzen die Entscheidung des Arbeitsgerichts Essen bestätigen? Siehe dazu auch Frage 9 zu den „Ausschlussfristen“.
#7 Lohnt sich eine Klage ohne Rechtsschutzversicherung?
Das ist eine Frage die du individuell entscheiden musst und die davon abhängig ist, wie risikofreudig du bist. Wichtig ist: Wenn du ohne Rechtsschutzversicherung klagst, kann es sein, dass sich die Klage finanziell nicht lohnt, falls die Klage abgelehnt wird. Dazu ein Beispiel: Bei einer Forderung von ca. 2.000 EUR liegt das Kostenrisiko (deine Anwalts-Kosten, Kosten der Gegenseite sowie Gerichtskosten) bei EUR 1.329,30. Über diesen Link könnt ihr die Kosten genau nachrechnen.
#8 Sollte ich klagen, oder ist es besser das Urteil in der nächsten Instanz abzuwarten?
Aufgrund der Ausschlussfristen empfiehlt es sich, kurzfristig aktiv zu werden und sofort die Ansprüche zur Wahrung der Ausschlussfristen geltend zu machen (siehe nächste Frage) . Wenn deine Rechtsschutzversicherung eine Deckungszusage erteilt hat, ist es ratsam zu klagen.
#9 Was muss ich in Bezug auf Ausschlussfristen beachten? Soll ich gleich Widerspruch einlegen oder warten? Nach § 37 TVÖD ist es z.B. ja schon zu spät, aber das Urteil ist ja auch erst jetzt da und ich wusste davon nichts.
Tarifliche Ausschlussfristen knüpfen an den Begriff der „Fälligkeit“ an (so auch § 37 TvÖD). Die gute Nachricht dazu ist erst einmal: Eine Fälligkeit im Sinne tariflicher Ausschlussfristen tritt nicht automatisch mit der Entstehung des Anspruchs ein. Das Bundesarbeitsgericht sagt dazu:
„Der Begriff der Fälligkeit in Ausschlussfristen ist unter Einbeziehung des Kenntnisstands des Gläubigers und subjektiver Zurechnungsgesichtspunkte interessengerecht auszulegen.“
Daher lässt sich gut argumentieren, dass vor dem Urteil des Arbeitsgerichts Essen keine Kenntnis hinsichtlich eines Anspruchs auf die IAP bestand. Auch wenn du dich durch die Nichtzahlung diskriminiert gefühlt hast, konntest du als juristischer Laie nicht davon ausgehen, dass du automatisch einen Anspruch hast und eine Lücke im Tarifvertrag angreifst (IAP-Zahlungen während der Elternzeit wurde im TVöD ja nicht ausdrücklich ausgeschlossen).
Wir schätzen die Erfolgsaussichten einer solchen Argumentation („die Ausschlussfrist darf erst mit Veröffentlichung des Urteils des Arbeitsgerichts Essen beginnen zu laufen“) somit als gut ein. Es bleibt dennoch ein gewisses Risiko, dass ein Gericht, welches sich damit zu befassen hat, das anders sieht.
Wichtig: Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Urteils des Arbeitsgerichts Essen sollte aber beachtet werden und so behandelt werden, als ob ab Veröffentlichung die Ausschlussfrist zu laufen beginnt.
Unsere ausdrückliche Empfehlung – im Hinblick auf tarifliche, aber auch auf alle sonstigen Ausschlussfristen: Wir raten dir dazu sofort deine Ansprüche geltend zu machen, um das Risiko, dass deine Ansprüche verfallen so gering wie möglich zu halten.
#10 Lohnt es sich nach dem Urteil noch die IAP zu verlangen (TVöD oder anderer Tarifvertrag)?
Auf jeden Fall! Du solltest mit Verweis auf das Urteil die IAP bei deinem Arbeitgeber schriftlich geltend machen – alleine schon zur Wahrung der Ausschlussfristen (siehe auch Frage davor). Da das Urteil sich auf den TVöD bezieht, ist der Verweis auf das Urteil selbsterklären, beim TV-L sollte noch eine Erklärung bzgl. der Übertragbarkeit wegen gleichlaufender Regelungen beigefügt werden. Gleiches gilt für andere Tarifverträge. Für diejenigen von euch die in der freien Wirtschaft arbeiten: siehe Frage 14.
#11 Kann es auch passieren, dass es auch ohne vorherige Beantragung rückwirkend eine IAP für alle gibt?
Sollte es zu einer höchstrichterlichen Bestätigung kommen, dass Beschäftigte in Elternzeit nicht vom Erhalt der IAP ausgeschlossen werden durften, ist das möglich. Garantiert werden kann es aber nicht. Insbesondere könnten sich die Arbeitgeber auf die – dann abgelaufene- Ausschlussfrist zurückziehen, daher solltest du nicht darauf warten und den Anspruch geltend machen.
#12 Wie sollten sich Arbeitgeber idealerweise verhalten?
Arbeitgeber können ihre Familienfreundlichkeit und ihre progressive Einstellung zeigen, in dem sie Mütter und Vätern in Elternzeit und Teilzeitkräften die Inflationsausgleichsprämie auszahlen. In Zeiten ausgeprägten Fachkräftemangels ist es für Arbeitgeber essentiell, sich als attraktiv und zukunftsfähig darzustellen und zu beweisen.
#13 Gilt das Urteil auch für Urlaub/Coronaprämie?
Beim Urlaub sind Kürzungsbefugnisse des Arbeitgebers während der Elternzeit gesetzlich geregelt. Hierauf kann die Rechtsprechung nicht übertragen werden. Bei der Coronaprämie sieht es anders aus, diese ist strukturell der Inflationsausgleichsprämie sehr ähnlich. Hier lohnt es sich, eine vergleichbare Argumentation heranzuziehen und diese zu verlangen, ggf. auch zu klagen.
#14 Ich arbeite in einem großen Unternehmen in der freien Wirtschaft. Die IAP wurde im Juli 2023 gezahlt, ich bin im August 2023 aus der Elternzeit gekommen. Lässt sich das Urteil übertragen?
Das Urteil lässt sich dann übertragen, wenn auch hier eine „fehlerhafte Gruppenbildung“ stattgefunden hat, wenn also eigentlich vergleichbare Beschäftigte ungleich behandelt wurden. Wenn aber etwa Mitarbeiter im Krankengeldbezug ebenfalls vom Bezug der IAP ausgeschlossen wurden, dann greift diese Argumentation, welche das Arbeitsgericht Essen überzeugt hat, nicht. Man kann natürlich trotzdem argumentieren, dass es eine Diskriminierung darstellt und nicht der Zwecksetzung der IAP entspricht, Eltern in Elternzeit von dem Bezug auszunehmen. Das Prozessrisiko dürfte in einem solchen Fall, in dem man nicht mit der fehlerhaften Gruppenbildung argumentieren kann, aber höher sein.
#15 Ist die Reduzierung wegen Teilzeit gerechtfertigt? Gilt das auch für Teilzeit außerhalb der Elternzeit (wenn ich die Stunden befristet wegen der Kinder reduziert habe)?
Das Arbeitsgericht Essen hat sich unserer Argumentation, dass Teilzeit in Elternzeit nicht zu einer Reduktion der IAP führen darf, angeschlossen. Es wäre ein absurdes Ergebnis, wenn Beschäftigte in Elternzeit ohne Teilzeitbeschäftigung vollen Anspruch auf die IAP hätten, Beschäftigte in Elternzeit mit Teilzeitbeschäftigung jedoch nur einen reduzierten Anspruch. Unserer Mandantin wurde somit auch für die Monate, in der sie in Elternteilzeit tätig war, die volle IAP zugesprochen. Inwiefern dies auch für Teilzeitkräfte gilt, welche außerhalb der Elternzeit wegen der Kinder eine reduzierte Stelle haben, lässt sich leider nicht vorhersagen, da diese Frage vor dem Arbeitsgericht Essen nicht zur Entscheidung anstand.
#16 Im Mutterschutz muss aber gezahlt werden, oder?
Ja, es ist eindeutig, dass Beschäftigten während eines Beschäftigungsverbotes oder während des Mutterschutzes die IAP gezahlt werden muss – egal ob du in der freien Wirtschaft oder tariflich beschäftigt bist. Dies sehen auch die Tarifverträge TVÖD und TV-L so vor.
#17 Gegen welche Tarifverträge gibt es noch anhängige Klagen?
Derzeit sind noch Klagen zum TV-L (Land Berlin) und in der privaten Wirtschaft anhängig. Des Weiteren stehen wir mit Beamtinnen in Kontakt die derzeit Widerspruchsverfahren durchlaufen.
#18 Nimmst du Mandate in der Sache an?
Aktuell haben wir nur noch wenig Kapazitäten, Fälle in Berlin und Bremen und nehmen wir noch Klagen an. Wir freuen uns aber, wenn wir mit anderen Kläger:innen in Austausch bleiben und wenn ihr uns eure Erfahrungen schickt! Schreibt uns daher gerne ein Mail an runge@kanzlei-runge.de .
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